1850 – 1876: Die „Dortmunder Gründerjahre”

Die Grundlagen der modernen Dortmunder Wirtschaft und der Großstadt Dortmund wurden zwischen 1850 und 1876 geschaffen. In diesen Kontext gehören jedoch auch Defizite wie die soziale Zweiteilung der Stadt durch die Eisenbahnlinien. Die damals in Kauf genommene Abtren­nung des Nordens von der Innenstadt hat die Stadt­planung bis in die Gegenwart hinein beschäf­tigt und ist auch heute noch nicht überwunden.

Die Ursachen für die richtungsweisenden Verän­derungen seit den 40er Jahren haben viele Ent­wicklungslinien, doch kann man zwei Hauptpunkte herausheben: die Kohlevorkommen im Süden der Stadt und die Verkehrslage, die durch den Anschluss an die Köln-Mindener Bahn (1847) und die Bergisch-Märkische Bahn (1849) das modernste Verkehrsmittel jener Zeit in Anspruch nimmt. Dortmund wurde gleichsam zum ersten Eisenbahn­knotenpunkt des entstehenden Industriereviers, 15 Jahre vor Bochum und Essen. Der Dortmunder Doppelbahnhof, dessen repräsentative Architektur von keinem seiner Nachfolgebauten annähernd erreicht wurde, bildete lange Zeit die Visitenkarte der Stadt. Vorübergehend war die Köln-Mindener Bahn auch größter Arbeitgeber vor Ort.

Der Bergbau, die Eisenindustrie und die Eisen­bahnen waren die „Leitsektoren” der Industriali­sierung, von denen keine Stadt so profitierte wie Dortmund. 40 bis 50 Prozent der Eisen- und Stahl­produktion wurden durch den Eisenbahnbedarf ausgefüllt, und die Eisen- und Stahlindustrie wiederum war mit 30 Prozent Hauptabnehmer der einheimischen Kohle.

Auf die konjunkturelle Hektik erfolgte in der Zeit von 1853 bis 1857 ein Abschwung, der das Grund­vertrauen in die Industrie zunächst erschütterte. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich eine denk­würdige Sitzung der Stadtverordneten aus dem Jahr 1862 nachvollziehen, die einen Bebauungs­plan mit der Begründung ablehnten, dass der „Industrie-Schwindel” sein schnelles Ende gefun­den habe, und man eben nicht auf künstlichem Wege eine Landschaft in eine große Industrie-und Handelsstadt „umschaffen” könne.

Die Bürgermeister Franz Mallinckrodt (1810-1832) und Wilhelm Brügmann (1832-1847) entstammten alteingesessenen Ratsfamilien. Auch Carl Zahn (1847-1871) war in Aplerbeck geboren worden. Als er 1871 – seit 1850 führte Zahn als erster Dort­munder überhaupt den Titel Oberbürgermeister -im Gründungsjahr des Deutschen Reiches aus dem Amt schied, lebten in Dortmund 45.000 Menschen, die sich einer sehr kleinen Verwaltung gegenüber­sahen. Lediglich ein Bürgermeister, ein besoldeter und sechs unbesoldete Stadträte, 22 städtische Bedienstete – darunter zehn Polizisten und sechs Nachtwächter – „verwalteten” die Stadt.

Als der Nationalökonom Karl Bücher als junger Gymnasiallehrer 1872 in dem inzwischen auf 45.000 Einwohner angewachsenen Dortmund ein­traf, fand er die Stadt „in fieberhafter Entwicklung” vor und konstatierte „eine fast amerikanische Ent­wicklung”, zumal „neue Fabriken, neue Wohn­straßen aus dem Boden wuchsen.” Auf dem früheren Gelände des Osterholzes wurden 1871 das Eisen- und Stahlwerk Hoesch und in seiner Nähe 1872 die „Maschinenfabrik Deutschland” gegründet; 1872 entstanden zudem der Hütten-und Zechenverbund „Dortmunder Union”. Neben bereits älteren bestehenden Brauereien wie z. B. der „Kronenbrauerei” entstanden die „Dortmunder Actienbrauerei” (1872) und „Union­Brauerei” (1873), gingen aus älteren handwerk­lichen Betrieben in Dortmund bedeutende Firmen wie Carl Treeck und Söhne (1867), Schüchtermann & Kremer (1870), C.H. Jucho (1877) und August Klönne (1879) hervor.

Hinter der Entwicklung vom „Dorf mit Mauern” zur Industriestadt war die Infrastruktur der Stadt zunächst zurückgeblieben, was sich jedoch unter der Amtszeit des neuen Ober­bürgermeisters Dr. Hermann Becker (1871-1878) rasch ändern sollte. Anstelle der bisher vornehmlich auf Sparsamkeit ausgerichteten Kommunalpolitik trat eine modern ausgerichtete Stadtverwaltung mit Initiative und Tatkraft. Der „rote” Becker, in seiner Jugend Anhänger der 1848er Revolution und mit Karl Marx befreundet, war Anhänger der liberalen Fortschrittspartei und Gründer des Historischen Ver­eins für Dortmund und die Grafschaft Mark. Dr. Hermann Becker war in seiner nur siebenjährigen Amtszeit (1871-1878) in Dortmund – danach war er Oberbürgermeister in Köln – einer der profiliertesten Oberbürgermeister der Stadt. Er verknüpfte industriellen Fortschritt mit der Ver­besserung der städtischen Infrastruktur und kultu­rellen Grundlagen. „Zweierlei Ausgaben werden einer Stadt niemals gereuen, die zur Belebung des Verkehrs und die für die Schulen”, so Becker 1871.

Zur Zeit der Reichsgründung dominierte in Dortmund die Fortschrittspartei das politische Ge­schehen. Sie war 1861 durch die Spaltung der großen liberalen Fraktion im preußischen Abge­ordnetenhaus entstanden und wurde zur ersten politischen Gruppierung in Deutschland, die man als moderne Partei bezeichnen kann. Die 1868 in Dortmund gegründete Filiale der 1863 gegründeten Sozialdemokratie, des Lassalleanischen Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins (ADAV), fand zu dieser Zeit noch keinen Rückhalt bei der Arbeiterschaft, zumal die Sozialdemokratie lediglich auf der Reichstagsebene eine politische Bühne vor­fand. In den 1830er, 1840er und 1850er Jahren sind neben den alteingesessenen Honoratiorenfamilien als Gemeinderäte erstmals in der Dortmunder Geschichte auch Wirte, Handwerker, Brauer und Einzelhändler erwähnt, die das kommunalpolitische Geschehen der Stadt beherrschten und prägten.

Gemäß der Gemeindeordnung für Preußen von 1850 war das Dreiklassenwahlrecht für die Kommu­nalwahlen ausschlaggebend, was eine aktive Beteili­gung der Arbeiterschaft an der Stadtführung weit­gehend ausschloss. Dortmund befand sich um 1875 noch im Spannungs­feld zwischen Kontinuität und Wandel. Auf der einen Seite die explosionsartige industrielle Entwicklung der Stadt und der enorm ansteigende Bevölkerungs­zuwachs, auf der anderen Seite die noch etablierten traditionellen Strukturen. Die Entwicklung des kultu­rellen Lebens konnte mit der industriellen und auch urbanen nicht ganz Schritt halten. Städtische Kulturein­richtungen wie Theater, Museen und Bibliotheken befanden sich erst in der Entstehungsphase. Eine Stadtbibliothek entstand allerdings schon 1875, funktionell und organisatorisch mit dem Stadtarchiv verbunden. Seit 1873 wurde das Stadtarchiv haupt­amtlich betreut und war damit eine der ältesten Verwaltungseinrichtungen der Stadt. Erst nach der Jahrhundertwende veränderte sich neben der gesellschaftspolitischen auch die kulturelle Landschaft Dortmunds erheblich.

Meyers Konver­sationslexikon notierte 1875: „Durch die günstige Lage inmitten des westfälischen Kohlenbeckens und Eisenbahnnetzes hat Dortmund einen in Deutschland beispiellosen Aufschwung genommen”.

Mit der Industrialisierung des Ruhrgebietes und damit auch Dortmunds veränderte sich das Landschaftsbild an Ruhr und Emscher, bildete sich eine Industrielandschaft heraus, die von Hoch­öfen, Fördertürmen, Kohlenhalden und Fabriken geprägt wurde. Die Bevölkerungszahlen stiegen im Zuge der Hochindustrialisierung von 1850 bis 1905 in ungekanntem Maße an. In diesem Zeit­raum wuchs die Gesamtbevölkerung im Ruhrge­biet von etwa 370.000 Menschen auf insgesamt 3 Millionen Menschen an. Die größeren Industrie­gründungen in Dortmund wie der Hörder Verein, die Dortmunder Union und Hoesch beschäftigten schon bald mehrere tausend Menschen. Dazu kam der immense Beschäftigungsanstieg im Bergbau. Zwischen 1849 und 1875 wuchs die Bevölkerung in Dortmund von exakt 10.515 auf 57.742 Personen (Essen: 8.732 auf 54.742). Trotzdem lag Dortmund als größte Stadt des Ruhrgebiets erst auf dem 29. Platz der Städte des Deutschen Reiches (heute 7. Platz).

Nach oben scrollen